Haben wir einen hohen Lebensstandard?

In Diskussionen fällt ab und an der Satz: "Wir haben doch so einen hohen Lebensstandard". Anschließend wird diese Aussage meist verwendet, um irgend eine Handlung davon ausgehend zu rechtfertigen. Beispiele wären:

- Daher können wir von nun an vom Wirtschaftswachstum absehen.
- Diesen gilt es aufrecht zu erhalten.
- Daher müssen wir die Marktwirtschaft stärken.
- Daher können wir den Kapitalismus abschaffen.
- Daher können wir ärmeren Erdteilen etwas abgeben.
- Daher müssen wir schauen, dass wir konkurrenzfähig bleiben.
- Daher haben wir eine Verantwortung gegenüber anderen.
- Daher geht es uns besser als früher.

An dieser Vorgehensweise kann man mehrere Punkte kritisieren.
Erstens folgt nach klassischer Logik aus dem Sein kein Sollen.  Nur, weil es eventuell tatsächlich so ist, dass wir einen hohen Lebensstandard haben, folgt daraus nicht, dass wir irgend etwas tun sollen. Das scheint schon die Liste oben zu belegen, dass aus diesem Sein oft sogar gegensätzliche Handlungsalternativen gefolgert werden können.
Zweitens muss man die Prämisse selber hinterfragen. Haben wir tatsächlich einen hohen Lebensstandard? Was heißt hier "haben"? Wer ist "wir"? Ist er "hoch"? Und schließlich: Was bedeutet "Lebensstandard"?

Das Wort "haben" beinhaltet, dass der Standard etwas wäre, das man besitzen kann. Es impliziert, dass man einen Standard objektivieren kann. Aber ist das der Fall? Ist es nicht viel mehr so, dass die Welt sich ständig verändert und dass dieser Standard nicht eher ein "Sein" ist? Ein momentanes Sein? Wir befinden uns eventuell in einer hohen Lebenststandardsituation. Und geht es vergleichsweise materiell gut. Aber das Wort "haben" hier zu verwenden kann zur trügerischen Sicht verführen, dass es sich um einen nicht mehr veränderbaren Zustand handelt.
Wir haben ihn und können ihn nicht mehr verlieren.
Das ist trügerisch.

Denn der derzeitige Zustand ist abhängig davon, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Alles ist jedoch in Bewegung. Alles fließt. Den derzeitigen Zustand aufrecht zu erhalten bedeutet, dass die Einkommen gleich bleiben, dass die Rohstoffe weiter aus der Erde herausgeholt werden können, in der selben Rate, vom selben Ort, von den selben Menschen. Dass die Menschen sich in Zukunft gleich verhalten, dass wir immer das selbe wollen, dass sich Eigentumsstrukturen und Gesetze nicht ändern und dass zum Beispiel die Bevölkerungszahl gleich bleibt. Aber alle diese Dinge verändern sich ständig.

Wenn ich sage: Ich habe einen hohen Lebensstandard, weil ich ein Smartphone besitze, so vergesse ich:
  • Dass das Smartphone nicht ewig hält und irgendwann ersetzt werden muss. 
  • Dass der Ersatz aus Materialien bestehen muss, die von der anderen Seite der Welt her kommen: Öl, Gold, seltene Erden. 
  • Dass das Handy in einer internationalen Arbeitsteilung entstand, die von Menschen getätigt wird, die essen müssen, um zu überleben. 
  • Dass ständig irgendwo neue Handys produziert und designed werden und dass mein tolles Smartphone morgen schon zu einem niedrigen Lebensstandard zählen könnte. Wie, wenn ich heute mit einem Nokia 3310 herumlaufen würde und behauptete, ich hätte ein modernes Handy.

Hier eine Statik im Denken zu haben, kann trügerisch sein.
Weiters muss man sich fragen, wer "wir" ist. Wenn beispielsweise das BIP pro Kopf herangezogen wird und dann ein hoher Lebensstandard davon abgeleitet wird, dass es in Österreich momentan 36.980 Euro beträgt, so lässt sich die Frage stellen: Wem kommt das tatsächlich zu Gute? Wird bei den Lebensstandardberechnungen zum Beispiel die Einkommensverteilung einberechnet? Sind mit "wir" auch die 1,5 Millionen Menschen in Österreich gemeint, die armutsgefährdet sind? Und warum bei den Grenzen Österreichs aufhören? Ist mit "wir" die Menschheit gemeint? Hat die Menschheit einen hohen Lebensstandard? Und warum kann man unter "wir" nicht gleich auch die Tiere und Pflanzen einbeziehen? Haben Tiger einen hohen Lebensstandard? Haben Marder und Tauben in Wien einen hohen Lebensstandard? Das Wort "wir" lässt offen, wer überhaupt gemeint ist. Offenbar sieht sich der Sprecher einer Gruppe zugehörig. Aber wer ist diese Gruppe? Und wer ist nicht dabei?

Außerdem kann man sich fragen, ob der Lebensstandard wirklich hoch ist. Wenn man BIP-Berechnungen heranzieht, so kann man es auch international vergleichen. Und damit wird auch klar: hoch oder niedrig sind immer Vergleichswerte. Hoch im Vergleich wozu? Hier lohnt es sich natürlich, die Broken-Window-fallacy zu erwähnen. Auch wenn diese oft benutzt wird, um einseitig gegen Staatswesen zu argumentieren, kann sie jedoch auch auf unsere Problematik angewendet werden:


Wenn wir unseren "hohen" Lebensstandard anschauen, so müssen wir uns natürlich fragen: Hoch im Vergleich zu welchem Zustand? Nur im Vergleich zu anderen Ländern oder im Vergleich zur Vergangenheit könnte zu wenig sein. Man muss eventuell eben auch das Augenmerk auf das wenden, was bisher nicht gesehen wurde. Ist unser Lebensstandard eventuell sogar sehr niedrig, wenn man andere Maßstäbe ansetzt? Zum Beispiel was Freizeit, Freiheit oder menschlicher Umgang betrifft?! Ob unser Lebensstandard hoch oder niedrig ist, hängt davon ab, womit wir uns vergleichen!

Schließlich, und damit hängt alles vorherige zusammen: Was bedeutet überhaupt Lebensstandard? Was ist das gute Leben? Welcher Indikator zeigt uns gutes Leben an? Ist unser Leben besser geworden, wenn wir den Geldwert aller gehandelten Güter und Dienstleistungen, sprich das BIP, erhöht haben? Ist unser Lebensstandard höher, wenn ein konstruierter Glücksindex gestiegen ist? Dies wirft uns zurück auf die fundamentalsten philosophischen Fragen!

Wenn also in den Medien wieder einmal die Wortwahl fällt: "Wir haben doch so einen hohen Lebensstandard", so muss man aufhorchen: Was genau folgert der Sprecher daraus? 

Damit verrät er, was für eine Vorstellung des guten Lebens er hat, womit er sich vergleicht, zu welcher Gruppe er sich zugehörig fühlt,  und ob er der Vorstellung unterliegt, dass die Wirtschaft stationär ist und sich die Welt nicht verändern kann...

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