Das Wohnprojekt als Mikrokosmos unserer Gesellschaft

Dieses Jahr bin ich in das von mir mit initiierte Wohnprojekt Künstlergasse eingezogen. Beim Aufbau dieses Wohnprojekts konnte ich spannende Einsichten in die Entstehung von gesellschaftlichen Strukturen bekommen.
Das Wohnprojekt Künstlergasse

Schließlich stellt so ein Haus einen Mikrokosmos unserer Gesamtgesellschaft dar, auch wenn man natürlich nicht alles von klein auf groß umlegen kann. Aber es gibt mittlerweile einige Punkte, welche ich zuvor an unserem System kritisiert hatte, ich nun jedoch zumindest nachvollziehen kann.

Folgendes konnte ich unter anderem bisher lernen:

1) Demokratie

Es ist gar nicht so leicht, sinnvolle Entscheidungsregeln für eine Gemeinschaft zu finden. Wenn man das Mehrheitsprinzip anwendet, so kann es passieren, dass einzelne Personen komplett unzufrieden bleiben. Wie geht man mit Minderheiten um?
Einstimmigkeit ist bei über 20 Personen sowieso fast nie gegeben. Andere Abstimmungsarten wie das SK-Prinzip stellen zwar die meisten Mitglieder zufrieden. Sie sind jedoch meist sehr langwierig und für schnelle Entscheidungen nicht sinnvoll.
Derzeit hat sich auch eine Art repräsentative Demokratie bei uns eingeschlichen. Denn es werden die Abstimmungen schon vorher von Arbeitsgruppen vorbereitet, die sinnvolle Alternativen vorbereiten. Hier ist denkbar, dass schon Alternativen, welche nicht im Interesse der jeweiligen Arbeitsgruppe liegen, gar nicht zur Abstimmung kommen. Weiters kommen nicht immer alle zu den Abstimmungstreffen. Für diese wird dann von anderen entschieden, wenn sie ihre Stimme nicht delegieren.

All dies macht das Thema Demokratie so spannend. Denn was passiert, wenn man mit einer Abstimmungsart nicht mehr zufrieden ist? Wie kann man bereits etablierte Strukturen wieder aufbrechen?

2) Wachsen der Gruppe:

Wenn sich eine Gruppe vergrößert, kann man oft Sprünge in der Stimmung erleben. Unter 10 Personen ist es noch sehr leicht. Es geht informell vonstatten, denn man kennt sich untereinander sehr gut. Ab ca. 15 Personen wird es schon schwieriger. Untergruppen bilden sich automatisch. Gleichzeitig müssen die Entscheidungsstrukturen mit wachsen und nach meiner Erfahrung auch strikter werden. Man braucht sich dann nicht wundern, dass eine größere Gruppe nach ganz anderen Regeln funktioniert als eine kleine.

Informationen zu vermitteln braucht bei mehr Menschen länger, daher braucht es bald auch bessere Tools. In unserer Gruppe wurden demnach Technologien wie ein Webspace, ein E-Mail-Verteiler und eine Homepage eingerichtet, um der Informationsflut Herr zu werden.
 
Es ist bewundernswert, wie das auf staatlicher Ebene überhaupt funktionieren kann. Wenn man zum Beispiel die Bevölkerungszahlen Thailands ansieht, so kann nur staunen. Lebten im Jahr 1911 noch um die 8,2 Millionen Einwohner dort (also ungefähr so viele wie Österreich heute), so beherbergt das Land mittlerweile 69 Millionen Menschen.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Thailand#mediaviewer/File:Entwicklung_der_Bev%C3%B6lkerung_in_Thailand.jpg
Strukturen müssen sich notgedrungen verändern, wenn so viele neue Menschen dazu kommen. Jede Gruppe von Leuten muss sich auf das einstellen: Wenn sie wächst, gibt es automatisch strukturelle Veränderung.

3) Regeln

Was uns zu den Regeln bringt. In jeder Gemeinschaft gibt es Gewohnheiten und Regeln. Was am Anfang nur eine Gewohnheit ist, wird für neue Mitglieder schon schnell zur unumstößlichen Regel.

Ich bin mittlerweile überrascht, dass selbst in unserem kleinen Projekt schon ein so großer Regelberg besteht. Diese Regeln auszuhandeln und zu verändern wird selber immer komplizierter. Auch die Durchsetzung der Regeln wird problematisch. Wenn sich alle daran halten, so gibt es sowieso keine Probleme. Nur wenn einzelne absichtlich oder unabsichtlich gegen Abmachungen verstoßen, wird es wieder verzwickt. Wie sanktioniert man die Regeln? Kommt es nur zu einem amikalen Gespräch? Was, wenn der vorher ausgemachte Weg von manchen verlassen wird, zum Schaden der gesamten Gruppe?

Ich wundere mich nicht mehr über die komplexe Gesetzeswelt, in welcher wir leben. Schon in unserer Gemeinschaft von 20 Menschen ist es so vielschichtig. Wie kann man da sinnvolle, einfache Regeln für Gesellschaften von 20 Millionen Menschen oder mehr aufstellen?!

Der Gemeinschaftsraum, in dem auch die Gruppenentscheidungen getroffen werden.

4) Wirtschaftsform

Selbst bei der zu wählenden Wirtschaftsform kann man schon zwei Tendenzen in unserem Wohnprojekt sehen. Auf der einen Seite haben wir die Geschenksökonomie-Fraktion. Sie möchte das System nach dem Prinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" aufgebaut sehen. Wenn man etwas für die Gemeinschaft tun möchte, so soll man das können. Wenn man etwas von der Gemeinschaft braucht, so soll man es bekommen. Verpflichtet soll sich keiner fühlen, weder die Nehmenden, noch die Gebenden.

Auf der anderen Seite gibt es auch das marktwirtschaftliche Lager. Diese meinen, Tätigkeiten sollten fair entlohnt werden. Wenn jemand mehr für die Gemeinschaft macht, so soll er auch mehr bekommen, oder zumindest wengier woanders geben müssen.

Diese beiden Tendenzen widersprechen sich teilweise. Denn wenn beide Prinzipien herrschen, so gibt es manche in der Gruppe, die viel geben und wenig nehmen wollen und das nach dem Schenkprinzip sehen. Andere nehmen viel und geben viel und sehen das als gerechtfertigt an. So eine Mischung kann schnell zu Unzufriedenheit in der Gruppe führen.

Es ist schon in unserem Wohnprojekt schwer, sich auf eine Form zu einigen. Kein Wunder, dass wir uns global derart über diese Themen zanken.

Erwähnenswert ist noch unser Kost-Nix-Kastl. Es repräsentiert einen funktionierenden Aspekt der Geschenksökonomie innerhalb unserer Gemeinschaft.


Kost-Nix-Kastl

Lernen


Der Lernprozess ist noch nicht abgeschlossen. So ein Wohnprojekt ist eine lebendige Gemeinschaft, die sich ständig verändert. Man könnte noch über viele Aspekte hier schreiben. Es lohnt sich, immer den Vergleich zu ziehen: Wo tendieren wir hin zu Strukturen und Phänomenen, die wir auf globaler Ebene beobachten können? Was davon ist gut und was weniger sinnvoll? Wiederholen wir nur, was sich in den anderen Gesellschaften auch negativ abspielt? Oder durchbrechen wir diese Tendenz und können uns unser eigenes kleines Paradies schaffen?
Es bleibt spannend!

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