Die Vorstellungen der Voluntaristen

Im Internet kann man mit vielen interessanten Menschen diskutieren. Zu den interessantesten gehören sicherlich die Libertären, Voluntaristen oder auch Anarchokapitalisten. Sicherlich gibt es geringfügig Unterschiede bei diesen Denkrichtungen. Aber ich möchte all diese hier subsummieren, da sie ähnliche Vorstellungen haben. In einem anderen Blogpost habe ich schon einmal beschrieben, was passiert, wenn man die anarchokapitalistische Idee zu Ende denkt.
Hier möchte ich noch auf ein paar Ansätze der Voluntaristen eingehen: Ein zentraler Punkt ist immer das Thema Freiheit. Schauen wir uns dazu einmal ein libertäres Propaganda-Video an:



Warum verwende ich das Wort „Propaganda“? Man muss sich nur, abseits der Musikwahl, die verwendeten Worte ansehen:

• „…von den Menschen und Industrien unterstützt…“;
• „…kooperieren…“;
• „…Zusammenarbeit und Kooperation von Millionen von Menschen…“;
• „…passt sich der Prozess reibungslos an…“;
• „Und die Beteiligten tun es freiwillig.“;
• „…gegen einen Lohn eintauschen können…“;
• „…freiwilliger, spontaner Kooperation…“

Man muss sich gleich die Frage stellen, was diese übermäßige Betonung von Freiwilligkeit soll? Warum sind die Libertären immer auf diesem Freiwilligen-Trip? Zu diesem Thema fällt mir spontan ein, was Georg Simmel in seiner „Philosophie des Geldes“ zum Thema Freiwilligkeit schrieb:

„Wenn in dem Chamissoschen Gedichte der Räuber mit vorgehaltener Pistole den Angefallenen zwingt, ihm Uhr und Ringe für drei Batzen zu verkaufen, so ist diesem unter solchen Umständen - da er nämlich nur so sein Leben retten kann - das Eingetauschte wirklich den Preis wert; niemand würde für einen Hungerlohn arbeiten, wenn er nicht in der Lage, in der er sich tatsächlich befindet, diesen Lohn eben dem Nichtarbeiten vorzöge.“
Simmel, Georg. 1989. Gesamtausgabe 6. Philosophie des Geldes. 1. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1989, S.81. Links von mir hinzugefügt.


Die Frage, die bleibt, ist: Ist eine Entscheidung zwischen Leben und Tod wirklich noch eine freie? Beinhaltet nicht eine freie Entscheidung, dass die Wahlmöglichkeiten nachhaltig sind, und zwar beide? Wenn eine Entscheidung dazu führt, dass ich nie wieder nachher entscheiden kann, also der Entscheidungsbaum endet: Ist es dann wirklich eine freiwillige Entscheidung?

So gesehen könnte man sich fragen, ob nicht das im Video erwähnte „Lohn eintauschen können“ in ein „Lohn eintauschen müssen“ geändert gehört! Denn wenn man nicht seinen Lohn eintauscht, so verhungert man. Und das, wohlgemerkt, obwohl es objektiv gesehen nicht an Essen mangelt. Die "Lage", in der man sich "tatsächlich befindet" ist ja keine vom Himmel gefallene Situation, sondern auch eine von Menschen durch Recht, Gesetze, Macht und Gewalt erzeugte oder zumindest mit verantwortete. Wird man von anderen in die Lage gebracht? Werden gesellschaftliche Tatsachen nicht von anderen beeinflusst?
Man könnte damit denjenigen, der einen Lohn von einem anderen herauspresst, obwohl er selber genug hat, mit dem Chamissoschen Räuber vergleichen. Nur dass er nicht selber die Waffe hält, sondern über das Eigentumsrecht auf die Waffengewalt anderer zurückgreift.
Davon abgesehen, dass die im Video erwähnte reibungslose Anpassung oft mit Arbeitslosigkeit und Verarmung ganzer Regionen verbunden ist, welche oft von menschlichen Tragödien begleitet werden. Hier von Reibungslosigkeit zu sprechen kann nur als zynisch bezeichnet werden.

Ist die Entscheidung zu sterben wirklich eine freie? Streng genommen natürlich ja. Aber eigentlich wollen die meisten von uns nicht in Situationen geraten, wo sich die Frage stellt: Entweder das tun, was verlangt wird, oder nie wieder entscheiden. Nun stelle ich zunächst die These auf, dass das System für das Vermeiden solcher Situationen vollkommen egal ist. Auch Steuern zahlt man ja heute freiwillig! Man unterwirft sich freiwillig den Umständen und handelt dementsprechend. Auch im libertären System gibt es solche Systemzwänge. Die anderen können ihr Eigentum ja zurückhalten, insbesondere das Eigentum an Grund und Boden. Wenn man nicht auf seinen Körper verzichten möchte, so muss man sich irgendwo aufhalten. Dementsprechend ist man auch hier auf die Entscheidungen anderer angewiesen. Da ist kein Unterschied zum jetzigen System! Bei jedem dieser Systeme gibt es Zwänge, sich den Regeln zu unterwerfen, die man großteils nicht selbst entworfen hat.

Komplett freiwillig würde ja bedeuten: Ich kann es frei nach meinem eigenen Ermessen, ohne äußere Zwänge machen. Das wäre eventuell bei einem bedingungslosen Grundeinkommen der Fall. Wobei dies natürlich wiederum an eine bedingungslose Ausgabe anderer gebunden wäre, zu der man sie wiederum zwingen müsste. Aber weder in einem komplett freien Marktsystem, noch in einem zentralistischeren System wäre die Entscheidung frei von den Einflüssen anderer!

Zu den libertären Vorstellungen kann man sich noch ein anderes Video ansehen:



Gehen wir auf die ersten paar Sätze im Detail ein:

„Die Philosophie der Freiheit beruht auf dem Prinzip des Eigentums an sich selbst“

An sich selbst kann man kein Eigentum haben. Denn Eigentum kann man veräußern. Sich selber nicht. Diese Idee beruht auf der cartesianischen Idee, dass Geist und Körper getrennt sind. Ich gehöre mir nicht, ich bin ich! Von Eigentum kann man sich trennen, von seinem Körper nicht. Die Philosophie der Freiheit scheint also schon auf einem zwiespältigen Prinzip zu ruhen.

„Dein Leben gehört dir“

Auch hier ist der Eigentumsgedanke schon vorausgesetzt. Mein Leben gehört niemandem! Zuerst muss ich existieren und denken können, bevor ich überhaupt an Eigentum denke. Ich bin doch nicht mein eigener Sklave!

„Dies zu leugnen bedeutet, dass ein anderer Mensch einen höheren Anspruch auf dein Leben hat als du selbst“

Falsch. Dies zu leugnen kann auch bedeuten, dass niemand einen Anspruch auf mein Leben hat. Niemand.

„Dein Leben gehört keinem anderen Menschen oder keiner anderen Gruppe von Menschen“

Stimmt. Aber auch nicht mir. „Gehören“ ist das falsche Wort. Eigentum ist das falsche Wort, wenn es um Leben geht!

„genau wie das Leben anderer nicht dir gehört“

Stimmt. Sklaverei ist in den meisten Teilen der Welt zumindest formal abgeschafft.

„Wenn du deine Freiheit verlierst, verlierst du deine Gegenwart“

Wie kann man seine Freiheit verlieren? Außer jemand sperrt mich ein. Aber dann habe ich noch immer Gegenwart. Nur halt im Gefängnis.

„Das Produkt Deines Lebens und Deiner Freiheit ist Dein Eigentum“

Von mir aus. Das was ich produziere, das gehört mir. Also ist es zum Beispiel unmöglich Eigentum an Grund und Boden zu haben. Denn der kann nicht produziert werden. Und die Autos, die in einer Fabrik hergestellt werden, gehören den Arbeitern und nicht denen, die sie angestellt haben. Interessant. Damit scheint sich diese Denkrichtung nicht zu unterscheiden von manchen linken Ideen, die davon ausgehen, dass Kapitalisten nur den Mehrwert von Arbeitern enteignen.

„Eigentum ist die Frucht Deiner Mühen, das Ergebnis Deiner Zeit, Kraft und Talente“

Aber was, wenn man mit anderen zusammenarbeitet und das nur gemeinsam schafft? Wer hat dann das Eigentum? Wie misst man Mühen, Kraft und Talente so, dass das entstehende Eigentum gerecht aufgeteilt wird? Wenn ich Friseur bin und mit meiner Mühe, Zeit, Kraft, und meinem Talent die Haare scheide, habe ich dann Eigentum an dieser Frisur?

„Eigentum ist der Teil der Natur, den Du nutzbar gemacht hast“

Aber die Natur selber kann niemandem gehören. Denn sie kann nicht von Menschen erschaffen werden.

[...]

„Wenn zwei Menschen ihr Eigentum freiwillig tauschen, ist es für beide von Vorteil, oder sie würden es nicht tun“

Was bedeutet freiwillig hier? Ist es eine freie Wahl, wenn ich mich entscheiden kann zwischen Verhungern und Tauschen? Ist es eine freie Wahl, wenn Gewalt angedroht wurde? Ist es eine freie Wahl wenn mich jemand vor die Wahl stellt: Entweder du tauschst, oder ich erschieße dich? Die Umstände dieses Tauschs sind auch zu beachten!

„Manchmal nutzen Menschen Zwang und Betrug, um anderen ohne deren freiwillige Zustimmung etwas wegzunehmen“

Zum Beispiel indem sie Grund und Boden als Eigentum ansehen, obwohl Eigentum daran unmöglich ist, weil es nicht durch Mühe, Zeit, Talente erschaffbar ist? Und dann Leuten androhen, dass sie sie gewaltsam entfernen lassen, wenn sie diesen Boden nicht verlassen?

Diese Argumentation könnte man vermutlich endlos fortführen. Widersprüche, wohin man sieht.

[...]

Die Vorstellung der Voluntaristen ist also zusammenfassend:
Man bearbeitet den Boden und erschafft so etwas. Man schnitzt sich zum Beispiel aus einem gefundenen Stück Holz eine schöne Figur. Diese Figur tauscht man mit einem anderen, der Karotten angebaut hat. Dann kommt eventuell eine dritte Person: Der Staat. Und nimmt einen Teil von beidem weg.

Diese Vorstellung ist so vereinfachend, dass man sagen kann, dass sie falsch ist.

Denn es ist ja erstens nicht so, dass man alleine arbeitet. Sondern man arbeitet immer im Kollektiv. Das ist das Prinzip der Arbeitsteilung. Wann hat man denn schon ein Produkt, von der Erschaffung über den Konsum bis hin zur Zerstörung selber und alleine benützt? Der Fehler liegt natürlich in den zwei Prämissen, dass man a) Werte alleine schafft und b) bei einem Tausch diese Werte freiwillig immer gegen etwas tauscht, das für einen höherwertig ist. Denn Werte werden, wie gesagt, nie alleine geschaffen. Man kann noch so viel alleine machen. Meistens kann man nicht sehr viel. Insbesondere, wenn einem kein Grund und Boden gehört. Woher bekommt man denn da die Rohstoffe? Das bedeutet auch, dass Wertentstehung immer ein sozialer Prozess ist. Wem die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zufallen, ist immer eine politische und eine Verteilungsfrage. Oft ist es Verhandlungssache. Die Vorstellung, dass man alleine etwas schafft und das dann her tauscht, ist angesichts der Arbeitsteilung, ob betriebsweit, im Binnenmarkt oder gar international zu vereinfachend.

Zweitens ist der Tausch oft nicht freiwillig, sondern man ist eben darauf angewiesen. Man gibt seine Arbeitskraft her, weil man sonst nicht zu den Karotten kommen könnte, die einen ernähren. Wir Menschen leben nun mal auch in der Welt und sind von materiellen Dingen abhängig (wenn man von Lichtnahrung absieht. Und selbst dann muss man sich irgendwo aufhalten). Wenn jedoch alles Material und jeder Grund im Eigentum von jemandem anderen steht und ich davon definitionsgemäß ausgeschlossen bin, so bin ich von diesen Eigentümern abhängig. Man ist auf den „Tausch“ mit ihnen angewiesen. Doch dann ist es kein freiwilliger Tausch, sondern Erpressung oder Ausnützen einer Zwangslage. Wenn ich nicht mit dir tausche, wenn ich nicht für dich arbeite, verhungere ich. Wenn ich die Miete nicht bezahle, lande ich auf der Straße. Die ist in der libertären Welt wiederum schon im Eigentum anderer. Und wenn es nicht ums Verhungern oder auf der Straße leben geht, dann zumindest um soziale Ächtung. Ist es eine komplett freie Entscheidung, wenn man unter sozialem Druck steht?

Drittens gibt es keine Entität „der Staat“. Der Staat sind immer andere Menschen. Die Frage ist: Wer entscheidet? In einer Demokratie ist der Ansatz, pro Person eine Stimme zu gewähren. Er geht von einem Gleichheitsgrundsatz aus. Natürlich gibt es Beamte, die ihre Position missbrauchen. Natürlich ist unser Staatssystem nicht perfekt und gehört dringends geändert. Jedoch: Wären wir ohne wirklich besser dran? Viel wird einfach umverteilt. Viele profitieren dadurch indirekt von einem Staatswesen. In ungleicheren Staaten scheinen die Menschen nicht wirklich glücklicher zu sein.

Viertens ist die Frage, ob es Eigentumsrechte ohne eine Form von Staat geben kann. Denn Eigentum bedeutet, dass ich jemanden anderen von der Nutzung ausschließen kann. Wie das ohne eine Staatsgewalt möglich ist, darf hinterfragt werden.

Zusammenfassend:
Man muss sich bei den Voluntaristen einerseits bedanken, weil sie viele Schwachpunkte des staatlichen Systems aufzeigen. Auch die Kritik am Schulsystem ist oft angebracht. Man sollte jedoch nicht blindlings den Argumenten vertrauen, die ihrerseits oft widersprüchlich sind und in Systeme führen können, die wiederum Ausbeutung fördern und Auseinanderklaffen von Reich und Arm bewirken können.
Man darf nicht eine totalitäre Denkrichtung durch eine andere ersetzen.

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